Darkness in El Dorado Controversy - Archived Document


Internet Source: Telepolis: Magazin der Netzkultur, September 25, 2000
Source URL (Archive.org): http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/lis/8788/1.html

Tödliche Genforschung an Menschen

Florian Rötzer

Ein angesehener amerikanischer Humangenetiker soll in den 60er Jahren den Tod vieler Yanomami-Indianer im Rahmen eines Versuchs für die Atomic Energy Commission verursacht haben

Was Patrick Tierney in seinem Buch "Darkness in El Dorado. How Scientists and Journalists Devastated the Amazon" berichtet, das am 1. Oktober erscheinen wird, hat nicht nur schon jetzt zu Aufregung bei Anthropologen und Ethnologen geführt, sondern dürfte auch die Kritik an der Genforschung wieder aufleben lassen. Der im Februar verstorbene Humangenetiker James Neel war, wie Francis Collins, Direktor des National Human Genome Research Institute, sagte, der "Vater des Forschungsfelds der Humangenetik", aber er scheint auch jemand gewesen zu sein, der für Forschungszwecke Hunderte von Menschen getötet hat oder sie zumindest hat sterben lassen.

James Neel war Professor an der Medical School der University of Michigan und richtete 1956 das erste Institut für Humangenetik an einer amerikanischen Universität ein. Der Vorstand der Medical School, Allen S. Lichter, würdigte Neel als "einen der herausragendsten Mitarbeiter", den die medizinische Abteilung der Universität in ihrer 150jährigen Geschichte gehabt habe.

Zu seinen Verdiensten zählt, dass er als einer der ersten Wissenschaftler die genetische Grundlage der Sichelzellenanämie entdeckt hat. Er hat auch die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung auf die Überlebenden und ihre Kinder in Hiroshima und Nagasaki untersucht, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von den Amerikanern mit Atombomben bombardiert wurden. Als Theoretiker stellte er die Hypothese auf, dass Gene, die mit verbreiteten modernen Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck verbunden sind, einst wichtig waren, weil sie für die Menschen in nahrungsknappen Zeiten überlebenswichtig waren. Seine Forschung galt auch den genetischen Auswirkungen von Ehen enger Verwandter, der Bestimmung der Zeit, ab der Amerika besiedelt wurde, oder den genetischen Eigenschaften von isolierten Indianerstämmen im Amazonasbecken.

Was aber so harmlos klingt, scheint auch zu Menschenversuchen mit tödlichem Ende oder zu einem biologischen Krieg im Dienste der "Wissenschaft" geführt zu haben. Mitte der 60er Jahre hatte Neel im Lebensgebiet der Yanomami-Indianer in Brasilien und Venezuela gearbeitet. Dabei soll er viele der Indianer mit Masern infiziert haben, wodurch er den Tod von einigen Hunderten, vielleicht auch von Tausenden von Menschen verursacht habe. Seinen Mitarbeitern soll er befohlen haben, den kranken und sterbenden Indianern nicht zu helfen, weil sie nur hier seien, um zu beobachten, was geschieht. Der Menschenversuch sei im Rahmen eines Forschungsauftrags der US Atomic Energy Commission erfolgt, die an Erkenntnissen über Gruppen, die mit einem, durch einen Atomkrieg verursachten Massensterben konfrontiert sind, interessiert gewesen sei. Neel wollte, so Tierney, durch die Infektion der Indianer sehen, wie sich die natürliche Selektion auf primitive Gesellschaften auswirkt.

Offenbar war dieses "Mengele-Projekt" eines der geheimen Experimente, die von der 1974 aufgelösten Atomic Energy Commission an menschlichen Versuchspersonen durchgeführt wurden. Die Gruppe um Neel haben auch Experimente für die Kommission in den USA durchgeführt, wobei Versuchspersonen ohne deren Wissen und Zustimmung radioaktives Plutonium injiziert worden sei.

Terrence Turner, Professor der Anthropologie an der Cornell University hatte Gelegenheit, vor der Veröffentlichung das Buch zu lesen und seine Behauptungen zu überprüfen, hat sich bereits gemeinsam mit Leslie Sponsel von der University of Hawaii, wie der Guardian berichtete, an die American Anthropological Association in einem Brief gewandt und darin geschrieben, dass dieser Vorfall "in seinem Umfang, seinen Verwicklungen und seiner puren Kriminalität und Verdorbenheit in der Geschichte der Anthropologie einmalig" sei. Nach Ansicht von Turner gebe Hinweise darauf, dass der verwendete Impfstoff Edmonson B gewesen sei, der ähnliche Symptome wie Masern hervorruft und der die Epidemie entweder ausgelöst oder aber zumindest verstärkt habe.

Der Verband hat daraufhin eine Mitteilung veröffentlicht, in der gesagt wird, dass man "über die Anschuldigungen extrem beunruhigt" sei. Da in dem Buch aber auch andere Anthropologen, Wissenschaftler und Journalisten beschuldigt werden, müsse man diesen erst einmal die Möglichkeit geben, sich über die Beschuldigungen zu äußern, bevor man die in dem Buch beschriebenen Vorfälle beurteilt und diskutiert. Man habe die Beschuldigten für die nächste Tagung des Verbands im November eingeladen, um Stellung zu nehmen. Der Verband kündigt an, man werde dazu ein offenes Forum einrichten, und betont, dass die Etablierung und Einhaltung von ethischen Richtlinien seit den 60er Jahren ein wesentliches Anliegen der Anthropologen sei. Dazu gehöre, dass die Forscher alles in ihrer Macht Stehende dafür tun sollen, dass ihre Arbeit nicht die Sicherheit, die Würde und die Privatsphäre der Menschen verletzt.

"Wenn Medizinexperten darüber informiert werden", so Turner, "dass Neel und seine Gruppe den in Frage stehenden Impfstoff eingesetzt haben, glauben sie das erst einmal nicht, dass sagen sie, es sei unglaublich, dass sie das getan haben konnten und können auf keine Weise erklären, warum sie solch einen ungeeigneten und gefährlichen Impfstoff verwendet hatten. Es gibt keine Aufzeichnungen, die belegen, dass Neel einen medizinischen Rat vor der Anwendung des Impfstoffes gesucht hatte. Er informierte auch nicht die dafür zuständigen Behörden Venezuelas, dass seine Gruppe eine Impfserie durchzuführen plante, wozu er rechtlich verpflichtet gewesen wäre."

Nach Turner sei Neel der Ansicht gewesen, dass die frühen menschlichen Gemeinschaften kleine, genetisch isolierte Gruppen gewesen seien, bei denen die dominanten Gene für bestimmte Eigenschaften wie ein "angeborenes Können" zum Führen einer Gruppe durch die Selektion bevorzugt werden, weil die männlichen Träger dieses Gens Zugang zu mehr Frauen haben würden und ihre Gene so häufiger reproduzieren könnten als andere Männer. Dadurch würde eine kontinuierliche Verbesserung des Genoms ermöglicht. Neel habe, so Turner, daran geglaubt, dass in den modernen Gesellschaften die Gene, die für höhere Führungsqualitäten verantwortlich sind, "von der genetischen Mittelmäßigkeit der Massen" überflutet werden: "Die politische Implikation dieser faschistischen Eugenik liegt ganz deutlich darin, dass die Gesellschaft neu in kleine isolierte Zuchtgruppen organisiert werden sollte, in denen genetisch überlegene Männer zur Macht kommen, die männlichen Verlierer im Wettkampf um Macht und Frauen eliminieren oder sich unterordnen und Harems von Zuchtweibchen anhäufen."

Turner bedauert angeblich, so Guardian, dass sein Brief an die American Anthropological Association bekannt geworden ist. Gleichwohl zeigte er sich über die schnelle Reaktion des Verbands erfreut. Schließlich denkt er, dass mit dem Bekanntwerden dieses Vorfalls die Anthropologie und natürlich die Genforschung in der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt werden könnten.