Darkness in El Dorado Controversy - Archived Document


Internet Source: Der Spiegel, Anthropologie No. 40:289, October 2 2000
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Maerchen vom Totschlaeger

Blech, Joerg

Sex mit jungen Indianern? Experimente mit Masern-Viren? Inszenierte Stammesfehden? Forscher aus dem Westen sollen Suedamerikas Yanomami fuer Menschenversuche missbraucht haben.

Erst bruellen die Wilden, dann schlagen sie mit Aexten und Macheten aufeinander ein. Und spaetestens wenn sie zu Pfeil und Bogen greifen, wird es ernst. "Sie wollen toeten", beschreibt der amerikanische Menschenkundler Napoleon Chagnon das Wesen der Yanomami-Indianer, von denen heute noch ungefaehr 20 000 im Regenwald Venezuelas und Brasiliens leben.

44 Prozent der Yanomami-Maenner haben schon einmal einen Menschen getoetet, will Chagnon auf seinen Exkursionen zu dem urtuemlichen Volk festgestellt haben. Der Professor von der University of California in Santa Barbara hat ein Menschenbild gezimmert, das grausamer nicht sein koennte: "Maenner, die Killer sind, haben moeglicherweise einen Vorteil beim Heiraten und Fortpflanzen."

Die Story vom Totschlaeger, auf den die Frauen fliegen, findet in der Zivilisation begierige Abnehmer. Ein 1968 erschienenes Buch Chagnons ueber die "grimmigen" Yanomami wurde bis heute fast eine Million mal verkauft; Magazine und Fernsehsender verbreiteten seine kriegsluesternen Bilder aus dem Regenwald in alle Welt.

So eindrucksvoll die Geschichte vom brutalen Wilden auch klingt - sie koennte sich als grandioses Maerchen aus dem Urwald entpuppen. In einem Buch, das in Kuerze in den Vereinigten Staaten veroeffentlicht wird, erscheint Chagnons Tun in einem neuen Licht: Glaubt man dem Autor Patrick Tierney, dann hat der einflussreiche Anthropologe Daten gefaelscht und die Yanomami bewusst als extrem kriegsluestern hingestellt, um an seinem Bild vom gewalttaetigen Homo sapiens festhalten zu koennen*.

Auch der deutsche Abenteurer Ruediger Nehberg, der die Yanomami auf 15 Reisen kennen gelernt und viele Monate mit ihnen gelebt hat, haelt Chagnons blutruenstige Darstellung fuer abwegig. "Natuerlich sind sie keine edlen Wilden", sagt Nehberg, "doch sie streiten nicht anders als wir." Die venezolanischen Behoerden halten Chagnons Thesen sogar fuer derart ueberzogen, dass sie ihn mittlerweile nicht mehr ins Land lassen.

Der streitbare Gelehrte ist beileibe nicht der Einzige, der jetzt von Tierney attackiert wird. Der geruehmte Humangenetiker James Neel beispielsweise soll in den sechziger Jahren zweifelhafte Impfstoffe an den ahnungslosen Indios ausprobiert haben. Jaques Lizot wiederum, ein franzoesischer Anthropologe, der 25 Jahre bei den Yanomami lebte, hielt sich angeblich einen Harem von Juenglingen. Sex soll er mit kleinen Geschenken entlohnt haben.

Chagnon ("grotesk") und Lizot ("ekelhaft") weisen saemtliche Anwuerfe entschieden zurueck. Doch manchen ihrer Kollegen kommt das Buch gerade recht. "In Ausmass, schierer Kriminalitaet und Korruption" sei der Skandal "ohne Beispiel in der Geschichte der Anthropologie", urteilen etwa Leslie Sponsel von der University of Hawaii in Honolulu und Terence Turner von der Cornell University in Ithaca. Sie gelten als Gegner Chagnons und haben das Buchmanuskript vorab gelesen. Das Tun des Wissenschaftlers erinnere sie an das Wirken "eines Josef Mengele".

Der Vergleich mit dem KZ-Arzt ist typisch fuer Zoff unter Anthropologen. Aus- --- S.285

gerechnet die vorgeblichen Freunde der letzten unschuldigen Menschenkinder und Retter bedrohter Voelker sind bekannt fuer ihre eitlen Fehden, die sie meist auf dem Ruecken ihrer "Studienobjekte" austragen. Kaum ein Volk litt darunter mehr als die Yanomami, von denen die meisten noch bis in die sechziger Jahre unberuehrt lebten.

Als die Weissen zu ihnen vordrangen, stiessen sie auf eine Welt, die sich 3000 Jahre lang erhalten hatte. Die Menschen lebten in Runddoerfern mit offenen Feuerstellen. Die Maenner, nur mit Penisschutz bekleidet, waren Jaeger und Fischer; die Frauen versorgten Huette und Feld.

Aus Tierneys Sicht erscheinen die Anthropologen nur wie Vorlaeufer jener Goldschuerfer, die seit den achtziger Jahren den Wald der Indianer mit Quecksilber vergiften: So soll 1968 eine Gruppe um Chagnon und den Humangenetiker James Neel von der University Michigan einen umstrittenen Impfstoff gegen Masern an den ahnungslosen Yanomami getestet haben. Dabei sei den Forschern vorher bekannt gewesen, dass die Vakzine unter den Yanomami, die keine natuerliche Abwehr gegen das Masernvirus besitzen, schwere Krankheitssymptome herrufen kann.

"Hunderte, vielleicht Tausende von Ureinwohnern", behauptet der Buchautor, haetten das Experiment nicht ueberlebt. Dass die Anthropologen seinerzeit mit Impfstoffen experimentierten, ist unstrittig. "In den Doerfern, in denen wir geimpft haben, starb kein Mensch an Masern", setzt sich Chagnon jedoch zur Wehr. Im Tierney-Buch klingt es etwas anders: Demnach hat Neel den kranken Indianern medizinische Hilfe verweigert, weil er lieber den Verlauf der Epidemie studierte.

Das angebliche Motiv: Der Humangenetiker, der im Februar im Alter von 84 Jahren verstorben ist, wollte ueberpruefen, ob dominante Maenner die Seuche ueberleben und ihre Gene weitergeben. Dazu schienen Neel, der wie ein Kolonialherr durch die Runddoerfer schritt, die nach seiner Ueberzeugung primitiven Menschen gerade recht.

Auch die Angelhaken und anderen Mitbringsel aus der modernen Welt, um die sich die Yanomami rissen, gaben die Anthropologen offenbar nicht aus reiner Naechstenliebe. Denn im Gegenzug, so der Vorwurf, zapften sie den Indianern Hunderte von Blutproben ab. Den Lebenssaft sammelten die Forscher fuer die amerikanische "Atomic Energy Commission". Diese Organisation wollte untersuchen, wie Strahlen auf das Erbgut verschiedener Ethnien wirken.

Doch nimmt sich dieser Vorwurf noch harmlos aus zu dem, was Chagnon den Indianern angetan haben soll: Um seine These vom wilden Krieger aufrecht zu erhalten, so Tierney, habe er nicht nur wissenschaftliche Daten verfaelscht, sondern von aussen Konflikte in die Staemme hineingetragen. Die blutigen Gemetzel habe er dann gefilmt.

Manche der zahllosen Chagnon-Fotos, auf denen beispielsweise Krieger auf dem Dorfplatz miteinander ringen, koennten demnach ebenfalls gestellt sein. Die Inszenierungen loesten spaeter reale Gewalt aus, so die Kritiker: Nachdem die Kameras eingepackt waren, fielen die angestachelten Staemme uebereinander her.

Der naechste Kampf der Wissenschaftler indes steht fuer November an. Auf der Jahrestagung der amerikanischen Anthropologen in San Francisco will Buchautor Tierney seine Vorwuerfe vortragen.

Dass die offenbar nicht voellig aus der Luft gegriffen sind, laesst sich daran ablesen, wie der Franzose Lizot jetzt in Paris auf die Anschuldigung reagiert hat, er habe sich damals im Regenwald an Juenglingen versuendigt. "Ich bin homosexuell, aber mein Haus ist kein Bordell", erklaerte der Anthropologe einem US-Reporter. "Ich war Single. Ist es verboten, sexuelle Beziehungen mit willigen Erwachsenen zu haben?" JOeRG BLECH