Internet Source: FACTS, Wissen: Anthropologie 132, October 5 2000
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Von Odette Frey
Yanomami US-Forscher sollen in den Sechzigerjahren mit einer Impfkampagne bei suedamerikanischen Indianern eine toedliche Masernepidemie ausgeloest haben.
Gegen die schweren Vorwuerfe wehren kann sich James Neel nicht mehr - der renommierte US-Wissenschaftler starb Anfang des Jahres 84-jaehrig an Krebs. Neel habe in den Sechzigerjahren bei den Yanomami-Indianern eine Masern -Impfkampagne durchgefuehrt, die "Hunderte, wenn nicht Tausende" von Toten forderte.
Diese Anschuldigung ist die gravierendste - aber nicht die einzige -, die ein amerikanischer Journalist in einem neuen Buch gegen Neel und andere Amazonas -Forscher erhebt.
Seit der erschuetternde Inhalt von "Darkness in El Dorado" (Norton-Verlag) wenige Wochen vor der Veroeffentlichung ins Internet gesickert ist, schlagen die Wellen hoch. "Das wird zum haesslichsten Skandal in der ganzen Geschichte der Anthropologie", glaubt Terence Turner von der Cornell University. Nichts weiter als eine "Hexenjagd" sei das Ganze, toenen die Verteidiger des beschuldigten Neel zurueck, die Vorwuerfe entbehrten jeder Grundlage.
Es geht beim Streit nicht nur um den Ruf einer Hand voll Wissenschaftler - das Ansehen eines ganzen Forschungszweigs steht auf dem Spiel. Die American Anthropological Association hat umgehend reagiert und fuer Mitte November ein Symposium einberufen, an dem der Fall diskutiert und die Fakten gesichtet werden sollen.
Die Anschuldigungen, die der Autor Patrick Tierney nach zehnjaehriger Feld- und Archivarbeit gegen den verstorbenen Genetiker Neel und seinen Kollegen, den bereits zuvor umstrittenen Yanomami-Experten Napoleon Chagnon, erhebt, sind massiv. Fuer Wirbel sorgt vor allem die Masern-Impfkampagne, die Neel und Chagnon 1968 in mehreren Yanomami-Doerfern in Venezuela durchgefuehrt haben.
Tierney glaubt, genuegend Beweise gesammelt zu haben, die zeigen, dass Neels Kampagne entweder die Epidemie ausgeloest oder aber eine bestehende Epidemie verschlimmert hat. "Der Verlauf der Epidemie folgte genau Neels Expedition", schreibt Tierney, der zurzeit keine Interviews gibt. Der verwendete Impfstoff Edmonston B sei fuer die Yanomami zu gefaehrlich gewesen. Sie waren bereits durch andere Krankheiten geschwaecht, und viele von ihnen waren zuvor noch nie mit Masern in Kontakt gekommen. Neel habe den Kranken ausserdem jegliche medizinische Hilfe versagt, behauptet der Autor.
Finanziert wurden Neels Expeditionen von der amerikanischen Atomic Energy Commission (AEC). Ein weiterer Punkt, der viele Anthropologen hellhoerig werden laesst. Denn unter den Fittichen der AEC wurden zu jener Zeit mehrere bedenkliche Experimente durchgefuehrt, bei denen beispielsweise Versuchspersonen ohne ihr Wissen hoch giftiges radioaktives Plutonium injiziert wurde.
Der Anthropologe Turner glaubt, Neel habe durchaus ein Motiv gehabt, eine Masernepidemie zu starten. Denn Neel vertrat die These, dass in isolierten Gruppen einige wenige Maenner mit den besten Genen die Fortpflanzung dominierten. Er habe spekuliert, dass diese Alpha-Maenner auch resistenter gegenueber Krankheiten seien und deshalb eine Seuche eher ueberleben wuerden. Eine Masernepidemie waere Neel also gelegen gekommen, um seine These zu ueberpruefen, vermutet Turner. "Neel war kein Monster - er wollte die Menschen nicht umbringen. Doch ich glaube, er hat diese Impfkampagne allein deshalb gemacht, weil er seine These testen wollte. Das Experiment ist ihm dann entglitten, die Leute sind gestorben."
"Groteske Anschuldigungen", entgegnet Neels damaliger Mitarbeiter Napoleon Chagnon. "Niemand, den wir geimpft haben, ist gestorben."
Aussage steht also gegen Aussage. Chagnon, so viel steht fest, ist als Kronzeuge nicht die optimale Besetzung. Der Ruf des Yanomami-Forschers ist denkbar schlecht. Seit Jahren befindet er sich nicht nur mit vielen seiner Kollegen im Clinch, sondern hat auch die venezolanischen Behoerden, Menschenrechts-Organisationen und die Yanomami selbst gegen sich aufgebracht. Von "Cowboy-Manieren" spricht die Geografin Pierrette Birraux-Ziegler von der Schweizer Nichtregierungs-Organisation Docip (Dokumentationsstelle fuer einheimische Voelker) in Genf, die selbst laengere Zeit bei den Yanomami lebte.
Die Anschuldigungen gegenueber Chagnon betreffen nicht nur die Impfkampagne, sondern auch seine uebrige Arbeitsweise im Amazonas. Buchautor Tierney wirft dem kalifornischen Anthropologen vor, er habe Yanomami gegeneinander aufgestachelt, um ihre gewalttaetigen Auseinandersetzungen zu filmen. So habe er nicht nur direkt fuer Leid gesorgt, sondern auch ein Image von erbarmungslosen Kampfmaschinen geschaffen, das den Indianern viel Schaden zugefuegt habe. "Politiker und Goldschuerfer benuetzen Chagnons Forschungsresultate, um die Yanomami von ihrem Land zu vertreiben", sagt Anthropologe Turner, seit Jahren ein erklaerter Erzfeind Chagnons.
Im Hickhack um Neel und Chagnon lodern also auch alte Animositaeten auf. Besonders die Frage nach dem Ursprung von Gewalt - von Chagnon als genetisch fixiert, von seinen Widersachern als eher soziales Phaenomen betrachtet - teilt die Zunft der Anthropologen bereits seit einiger Zeit in zwei Lager.
Eingemischt in die Debatte haben sich nun auch Nichtanthropologen. Sam Katz von der Duke University Medical School, der seinerzeit den fraglichen Impfstoff Edmonston B mitentwickelt hatte, haelt die These, Neel habe eine Epidemie verursacht, fuer "voellig laecherlich". "Abertausende von Menschen weltweit, auch in Entwicklungslaendern, wurden mit diesem Impfstoff behandelt", sagt Katz. "Todesfaelle gab es nur vereinzelte - und alle betrafen Kinder, die entweder Leukaemie oder Aids hatten."
Rueckendeckung erhaelt Neel auch von der Wissenschafts-Historikerin Susan Lindee von der University of Pennsylvania. Lindee, die bereits ein Buch ueber Neel verfasst hat, haelt ihn zwar fuer einen "Elitisten", der die Yanomami vor allem als Forschungsobjekte wahrnahm. "Doch ich bin sicher, dass seine Absichten gut waren." Sobald Lindee Wind von Tierneys Buch bekommen hatte, durchforstete sie Neels archivierte Notizen. Fuer sie ist klar: Neel und Chagnon setzten alle ihre Kraefte ein, um eine bereits laufende Masernepidemie zu stoppen. Ganz reinwaschen will sie Neel und Chagnon aber nicht: "Die Yanomami wurden schlecht behandelt - da war viel kulturelle Ueberheblichkeit im Spiel."
Neel seinerseits scheint geahnt zu haben, welches Ungemach seinem Andenken eines Tages bluehen wuerde: Die archivierten Notizen, auf die Lindee zurueckgriff, beschriftete er mit "Yanomami-Versicherung".
James Neel: Der verstorbene Genetiker steht im Mittelpunkt der Vorwuerfe.
indianer: Das Siedlungsgebiet der Yanomami in Venezuela und Brasilien.
"groteske anschuldigungen": James Neels Mitarbeiter Napoleon Chagnon mit Yanomami.
Bookmarks
Gesellschaft fuer bedrohte Voelker:
www.gfbv.de/voelker/suedam/ brasil/yanomami.htm
Ethik-Code der American Anthropological Association (Englisch):
www.ameranthassn.org/ committees/ethics/ethics.htm
Artikel ueber Napoleon Chagnon, "LA Times Magazine", 30. Januar 2000 (Englisch):
cogweb.english.ucsb.edu/ Abstracts/Chagnon_00.html
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