Internet Source: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Natur und Wissenschaft, Pg. N5, Geisteswissenschaften , November 29, 2000
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Das letzte grosse Erdbeben erschuetterte die chronisch rumorende Welt der Anthropologie vor genau siebzehn Jahren. Postum im Epizentrum fand sich damals Margaret Mead wieder, die legendaere Suedseereisende, die mit ihren Sexualstudien samoanischer Maedchen so gruendlich die kulturelle Last westlicher Verklemmung aufzuzeigen schien. Meads Ergebnisse, weithin anerkannt und gepriesen, verwies Derek Freeman ins Reich des Mythos. Eine neue Kontroverse droht den Fall Mead zur Lappalie herabzustufen. Waehrend die Forscherin allenfalls einer nicht eben wissenschaftlichen Leichtglaeubigkeit zu bezichtigen war, soll es nun um eine Perversion von Forschung gehen, um eine ausgewachsene Katastrophe, in die nicht nur ein einzelner Wissenschaftler, sondern seine gesamte Wissenschaft verstrickt ist.
Der beschuldigte Anthropologe ist kaum von geringerer Statur als Mead. Napoleon Chagnon hat sich mit seinem Buch ueber die Yanomami, einen im suedlichen Venezuela und noerdlichen Brasilien beheimateten Indianerstamm, Ruhm und Vermoegen erschrieben. "Yanomamo, The Fierce People" ist ein wissenschaftlicher Bericht mit dem Flair eines Abenteurschmoekers, ein Standardwerk der Disziplin, das immer wieder neu aufgelegt und millionenfach verkauft wurde. Passend zum Bestseller drehte Chagnon mit Timothy Asch zwei nicht minder umjubelte Dokumentarfilme. Ein besserer Kenner der in steinzeitlicher Isolation lebenden Yanomami war schwerlich aufzutreiben.
Verfuehrung zum Tabubruch
Dabei hatte er, zumal in akademischen Kreisen, seine Kritiker. Den Nimbus des wichtigsten Anthropologen seiner Generation wollten all die nicht anerkennen, die sich an der nicht gerade zimperlichen Arbeitsweise Chagnons stoerten. Zuletzt wurde ihm gar Einreiseverbot ins Gebiet der Yanomami erteilt. Zum richtigen Skandal aber kam es erst jetzt. Anlass ist eine Klageschrift des anthropologisch ausgewiesenen Journalisten Patrick Tierney, der mehr als ein Jahrzehnt recherchierte und sechsmal zu den Yanomami reiste. Sein Urteil ueber die Aktivitaeten Chagnons ist vernichtend. "Darkness in El Dorado" (W. W. Norton & Company, New York 2000) hat er sein Buch genannt, in gewiss nicht absichtsloser Anspielung auf Joseph Conrads "Herz der Finsternis". Und tatsaechlich erinnert Tierneys Chagnon in seinem tyrannischen Urwaldfuror bisweilen an den wahnsinnigen Elfenbeinhaendler Kurtz.
Tierney, der fuer sich selbst offenbar den Part des Kapitaens Marlow ausgesucht hat, redet nicht um den heissen Brei herum. Daten seien nach Chagnons Ideologie zurechtfrisiert, Szenen fuer die Kamera gestellt, ja, ein seit langem verlassenes Dorf sei als Filmkulisse hergerichtet worden. Chagnon beschrieb die Yanomami als einen der aggressivsten, kriegerischsten Staemme, die je diesen Planeten verunsicherten. Nach Tierneys Szenario hat der Wissenschaftler indes die Kriegslust mit dem Verteilen von Aexten und Macheten, mit der Verfuehrung zum Tabubruch wenn nicht ausgeloest, dann womoeglich gefoerdert. Durch eine solch einseitige, negative Darstellung der Yanomami habe er Goldgraebern und der Holzindustrie gleichsam die Rechtfertigung geliefert, mit dem Stamm sehr unsanft umzugehen. So sei Chagnon zum destabilisierenden Faktor fuer die ganze Region geworden.
Aber es kommt noch schlimmer. Tierney kann es nicht beweisen, aber er legt nahe, dass Chagnon am Missbrauch der Yanomami zu medizinischen Experimenten beteiligt war. Er spielt auf eine Infizierung des Stamms mit Masern an, eine furchtbare Epidemie, der 1968 ein Fuenftel der Population erlag. Chagnon war zu dieser Zeit mit James V. Neel in Suedamerika, dem bedeutenden Humangenetiker von der University of Michigan. Tierney zufolge war Neel darauf bedacht, seine Theorien von der hochwertigen Genqualitaet der Yanomami zu testen, eines praehistorisch reinen Stammes, der sich noch nach unverfaelscht darwinistischem Ausleseprinzip fortpflanzte und deshalb, wie Neel vermutete, eine robustere Immunitaet sein eigen nannte als der zivilisatorisch verweichlichte, genetisch verwaesserte Menschenschlag der Neuzeit.
Neel glaubte an die ueberlegenen Gene kleiner, isolierter Bevoelkerungsgruppen, in denen ein aggressiver Mann mehr Frauen an sich bindet als sein schuechterner Rivale, folglich haeufiger Gelegenheit bekommt, seine Gene weiterzugeben, und so der genetische Fortschritt garantiert wird. Dieser Eugenik nach Naturrezept stellte Neel die entropischen Herden der modernen Massengesellschaft gegenueber, wo die Grundregel vom Ueberleben des Staerkeren ausser Kraft gesetzt ist von einer Chancengleichheit, die dem Mittelmass die Zukunft verspricht. Nicht anders sieht Chagnon den wilden Stamm der Yanomami. Er beschreibt eine Gesellschaftsordnung, in der jeder Mord mehr gesellschaftliche Anerkennung bringt, Moerder darum mehr Erfolg, mehr Frauen, mehr Kinder haben. Ihre Gene setzen sich durch. Damit waere, nach Chagnon, beweisen, dass menschliche Natur inhaerent antagonistisch ist, Gewalt mithin genetisch bedingt.
In Tierneys Horrorkabinett tut sich eine weitere Tuer auf. Dahinter gewahren wir die Atomic Energy Commission, die sich fuer Auswirkungen von Atomstrahlen interessiert und immer dankbar ist, wenn eine erwiesenermassen unverstrahlte Kontrollpopulation zur Verfuegung steht. Der Leiter der geheimen Studien dieser Organisation heisst James V. Neel. Tierney spekuliert nun, dass ihm die Masernepidemie nicht ungelegen kam fuer die praktische Bestaetigung seiner immunologischen Theorien. Hat Neel die Seuche aber auch verursacht? Fuehrende Mediziner haben inzwischen erklaert, dass eine Infektion durch Impfung auszuschliessen sei. Tierney bleibt bemerkenswert vorsichtig. Er suggeriert Schuld, scheut aber vor der direkten Anklage zurueck. Grund genug fuer die Verteidiger der Anthropologen, vehement zurueckzuschlagen. Sie behaupten, die Epidemie habe schon vor der Ankunft von Chagnon und Neel grassiert. Mit ihren Impfungen sei sie sogar eingedaemmt worden. Ob die beiden Forscher den Yanomami beigestanden oder, wie Tierney mutmasst, tatenlos der Katastrophe zugeschaut haben, wird wohl nicht zu klaeren sein.
Unermuedlich und in grellen Farben malt Tierney das Bild von Wissenschaftlern, die ihre zivilisatorische Ueberlegenheit schamlos ausnutzen und in einem vermeintlichen Niemandsland der Moral selbst ihren moralischen Halt verlieren. Der franzoesische Forscher Jacques Lizot, der sich als Kritiker Chagnons hervortat, soll ueber einen Harem von Knaben geherrscht haben. Chagnon und Neel verdaechtigt Tierney, sie haetten gemeinsame Sache mit korrupten venezolanischen Politikern und Minenbesitzern gemacht, zum Schaden eines als kriegerisch verrufenen, aber in Wahrheit wehrlosen Stammes.
Chagnon, seit vergangenem Jahr emeritiert von der University of California in Santa Barbara, hat Tierneys Angriffe mit scharfen Worten zurueckgewiesen. An Verteidigern fehlt es ihm nicht. Unter ihnen befinden sich akademische Koryphaeen wie die Evolutionsbiologen Edward O. Wilson von der Harvard University und Richard Dawkins aus Oxford. Die National Academy of Sciences macht sich stark fuer ihr im Februar verstorbenes Mitglied Neel. Wie die bunten Formationen der Anklaeger und Verteidiger schon andeuten, geht der Streit weit ueber die Grenzen der Anthropologie hinaus.
Als Margaret Meads kultureller Relativismus eine Schlappe erlitt, durften sich die Vertreter des biologischen Determinismus freuen. Bei Chagnon ist es umgekehrt. Um ihn muessen sich nun die Wissenschaftler scharen, die der Natur die Hauptrolle im Evolutionsprozess zugedacht und der Kultur eine Absage erteilt haben. Natuerlich, so reduktionistisch klar verlaufen die Fronten auch hier nicht. Kein ernst zu nehmender Forscher wird ein Modell propagieren, das eindeutig determiniert ist, genetisch oder kulturell. Die Polarisierung ist dennoch zu erkennen, auch unter den Anthropologen. Auf der kuerzlich in San Francisco veranstalteten Jahreskonferenz der "American Anthropological Association" kam es denn auch zu einer heftigen Kontroverse um Chagnon und Tierney.
Ruf nach ethischen Richtlinien
Das Ergebnis? Mit dem gleichen analytischen Instrumentarium, das die Anthropologen sonst auf Samoanerinnen oder Yanomami richten, wollen sie anscheinend auch sich selbst untersuchen. Ein revolutionaerer Gedanke ist das nicht unbedingt. Die Anthropologie, als Wissenschaft eben mal hundert Jahre alt, ist an Krisen gewoehnt. Der Vorwurf, fremde Kulturen durch die westliche Brille zu betrachten und ihr Bild demnach zu verzerren, hat bereits Tradition. In San Francisco zog sich die AAA aus der Affaere, indem sie die Entscheidung, ob und wie Tierneys Anschuldigungen zu behandeln seien, an eine Pruefungskommission weitergab. Durch die Konferenzsaele schallte wieder der Ruf nach ethischen Richtlinien, die den bestehenden Kodex erweitern und Forscher etwa dazu verpflichten sollten, angesichts einer epidemischen Katastrophe aktiv Hilfe zu leisten und mit Entlohnungen und Geschenken, die auf die Gunst eines Stammes abzielen, vorsichtig zu verfahren.
Wie Quantenmechaniker, so muessen auch Anthropologen akzeptieren, dass es keine Beobachtung gibt, die das Beobachtete nicht beeintraechtigt. Die AAA hat ihre Beruehrungsaengste abgelegt und will erkunden, wie sie, vor allem in Suedamerika, mit ihrer Arbeit direkt von Nutzen sein kann. Ob das reicht, dem Vorwurf des Kulturimperialismus zu entgehen, wird sich herausstellen. Chagnon hat andere Sorgen. Obwohl zur Konferenz eingeladen, blieb er ihr, im Gegensatz zu Tierney, fern und orchestrierte seine Verteidigung in seinem Refugium im Bundesstaat Michigan. Von dort schleuderte er Blitze gen Kalifornien, auf Tierney und ebenso schwungvoll auf die verhasste AAA, fuer ihn nichts als ein Verein linksradikaler Akademiker, verquast und befangen in ihren postmodernen Gespinsten.
Der Skandal, zeitgemaess im Internet per E-Mail entfacht, richtet sich so auch in laengst ueberwunden geglaubten Stellungen des Kalten Krieges ein. Evolutionsbiologen haben sich automatisch rechts einzuordnen, nach links biegen kulturrelativistische Verkehrsteilnehmer ab. Derart simpel hat es jedenfalls eine Presse inszeniert, die, vom erzkonservativen "Wall Street Journal" ueber die moderate "New York Times" bis zum liberalen "New Yorker", nach ihren jeweiligen ideologischen Positionen Partei ergreift.
Im Eifer des Gefechts gehen wissenschaftliche und wissenschaftsethische Nuancen verloren. Statt Tierneys Argumente abzuwaegen, kommt es abermals zum froehlichen Tauziehen zwischen den Absolutisten, die menschliche Natur uebers Genom erklaeren, und ihren Antipoden, denen der kulturelle Kontext ueber alles geht. Der Krieg zwischen Tierney und Chagnon, der sich im Lichte juengster genetischer Entdeckungen eher noch verschaerft, erschuettert in ihren Grundfesten eine Disziplin, deren Analysen sich ohnehin lieber nach aussen als nach innen orientieren. Indirekt aber bekommt Chagnon zumindest in einer Hinsicht recht. Die antagonistische Natur des Menschen, die er ueber die Gene der Yanomami zu entschluesseln meinte, bestaetigt sich in der neuen Stammesfehde der Anthropologen.
JORDAN MEJIAS
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