Darkness in El Dorado Controversy - Archived Document


Internet Source: Frankfurter Allgemeine Zeitung,Natur und Wissenschaft, Pg. N5, Geisteswissenschaften, December 13, 2000
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Ein Ethnologe unter Verdacht

WOLFGANG KRISCHKE

Patrick Tierneys "Enthuellungen" werfen einen Schatten auf die Anthropologie. Die Vorwuerfe, die er in seinem Buch "Darkness in El Dorado" gegen den Ethnologen Napoleon Chagnon und den kuerzlich verstorbenen Genetiker James Neel richtet, reichen vom wissenschaftlichen Betrug bis zum Genozid (siehe F.A.Z. vom 29. November). Die "American Anthropological Association" hat es vermieden, Position zu beziehen, und statt dessen eine Untersuchungskommission eingesetzt, obwohl die wichtigsten Vorwuerfe schon bei einem Diskussionsforum auf dem Jahreskongress mit ueberzeugenden Argumenten zurueckgewiesen wurden. Tierneys Recherchemethoden erscheinen mittlerweile in einem trueben Licht, schon vor dem Kongress hatte man Unstimmigkeiten und entstellte Zitate entdeckt. Chagnon will juristisch gegen den Autor und den Verlag vorgehen.

Mittlerweile ist nicht mehr zu uebersehen, dass sich der wirkliche Skandal im elektronisch vernetzten Dickicht des virtuellen Wissenschaftsdschungels ereignet hat. Ethnologen hatten den Stein ins Rollen gebracht, indem sie, Wochen vor Erscheinen von Tierneys Buch, die Anschuldigungen als Fakten hinstellten und im Internet verbreiteten. Sie wurden von den Medien schnell und ungeprueft uebernommen. Im September ging bei der Anthropologenvereinigung eine E-Mail ein, in der es hiess, Tierney habe einen Skandal aufgedeckt, dessen krimineller Charakter ohne Beispiel in der Geschichte der Anthropologie sei und allenfalls die Vorstellungskraft eines Josef Mengele nicht uebersteige. Verfasser des elektronischen Brandbriefes waren die Ethnologen Leslie Sponsel und Terence Turner.

Die "American Anthropoligical Association" kuendigte daraufhin ein Diskussionsforum an und verurteilte die inkriminierten Handlungen, sollten sie denn stattgefunden haben. Sponsels und Turners E-Mail verbreitete sich unterdessen im Internet, und der angesehene Wissenschaftsverlag Norton verteilte Druckfahnen des Buches nach undurchsichtigen Kriterien oder verweigerte sie. Nun griffen die Medien das Thema auf. Der Londoner "Guardian" berichtete mit der Schlagzeile "Wissenschaftler ,ermordet Amazonas-Indianer, um Rassentheorie zu testen'", auch der "Spiegel" gab Tierneys Thesen breiten Raum, liess die Angegriffenen aber nur mit inhaltsleeren Dementis zu Wort kommen. Die Ingredienzien Rassismus, Regenwald und diabolische Forscher schienen unwiderstehlich.

Chagnon und seine Verteidiger reagierten rasch. Die Universitaeten von Santa Barbara und Michigan sowie die "National Academy of Sciences" setzten Untersuchungskommissionen ein, die ihre Ergebnisse auf Websites veroeffentlichten. Die Wissenschaftshistorikerin Susan Lindee widersprach dem Vorwurf, Chagnon und Neel haetten 1968 im Auftrag der amerikanischen Atombehoerde mit Hilfe von Impfstoffen unter den Yanomami eine Masernepidemie ausgeloest oder wenigstens beschleunigt. Tierney suggeriert, dass die Wissenschaftler herausfinden wollten, ob eine genetische Elite die Seuche ueberleben wuerde, um dann ihr vorteilhaftes Erbgut weiterzugeben. Tatsaechlich war die Masernepidemie schon ausgebrochen, bevor Neel und Chagnon zu den Yanomami reisten, und der verwendete Impfstoff war, entgegen Tierneys Behauptung, von der Weltgesundheitsorganisation auch fuer isolierte Populationen zugelassen. Eine seuchenausloesende Wirkung sei, so Lindee, trotz millionenfacher Anwendung noch nie beobachtet worden, Neel und Chagnon haetten durch Impfungen und Antibiotika Schlimmeres verhuetet.

Auch die Theorien und Forschungsinteressen von Neel und seinem ethnologischen Experten Chagnon lieferten kein Motiv fuer das unterstellte Experiment: Neel meinte, bei den Yanomami eine "primitive" Population studieren zu koennen, deren "urspruengliches" Erbgut noch nicht durch radioaktive Strahlung oder Chemikalien veraendert war. Die verheerende Wirkung der Masern hielt er nicht fuer genetisch, sondern fuer sozial bedingt, denn wegen des Mangels an natuerlichen Abwehrstoffen erkrankten ganze Dorfbevoelkerungen. Mangelhafte Pflege und Ernaehrung brachten insbesondere vielen Kindern den Tod, die ansonsten die Krankheit durchaus ueberlebt und einen Immunschutz erworben haetten. Tierney charakterisierte Neel als obsessiven "Eugeniker" und brachte ihn so in die Naehe von faschistischen Rassentheorien, obwohl Neels Schriften dafuer keine Anhaltspunkte liefern.

Finsteren Verdacht weckte auch die Atomenergiebehoerde, die Neels Arbeiten finanziert hatte und die inzwischen wegen ihrer Strahlenexperimente an unwissenden Testpersonen in Verruf geraten ist. Es gibt aber keinen Beweis dafuer, dass Neel oder Chagnon mit solchen Versuchen etwas zu tun hatten. Ein grosser Teil der biologischen Forschungsprojekte in den Vereinigten Staaten erhielt damals Geld von der Atomenergiebehoerde. In einem Punkt aber laesst sich unkorrektes Verhalten nachweisen: Neel brauchte genealogische Daten, stiess aber bei den Yanomami auf ein Tabu, das die Nennung der Namen Verstorbener verbot. Chagnon besorgte die gewuenschten Informationen von feindlichen Nachbarn. Mit Genozid hat das allerdings nichts zu tun. Terence Turner hat mittlerweile eingeraeumt, dass die Behauptung, die Masernepidemie sei absichtlich ausgeloest worden, falsch ist. Seitdem versuchen er und Sponsel, sich von den Geistern, die sie riefen, zu distanzieren. Sie geben sich empoert ueber die Weiterverbreitung ihrer "vertraulichen" E-Mail, sie haetten lediglich die Anthropologenvereinigung von Tierneys Buch rechtzeitig in Kenntnis setzen wollen. Doch tatsaechlich hatten sie Tierneys Behauptungen noch zugespitzt und ihnen bescheinigt, "ueberzeugend belegt" zu sein.

Sponsel insinuierte darueber hinaus, dass Chagnon unter einer Persoenlichkeitsstoerung leide. Aber auch das Bild von Chagnon als skrupellosem Mythenfabrikanten erweist sich zumindest als uebertrieben. Das kriegerische Image der Yanomami ist nicht seine Erfindung, sondern findet sich bereits in aelteren Quellen bis zurueck ins neunzehnte Jahrhundert. Untersuchungen, die Chagnons Angaben ueber gewaltbedingte Sterblichkeitsraten stuetzen, wurden von Tierney unterschlagen oder in ihren Aussagen in das Gegenteil verkehrt. Experten des ethnographischen Films, die Tierney anfuehrt, um seine Behauptung von den inszenierten Kriegen zu stuetzen, erklaeren, falsch zitiert zu sein. Auch der Vorwurf, Chagnons Schilderungen haetten Goldsucher veranlasst, besonders brutal gegen die Yanomami vorzugehen, erscheint wenig stichhaltig: Goldsucher, Holzfaeller und korrupte Politiker treiben seit vielen Jahrzehnten ihr Unwesen im Yanomami-Territorium, ohne ihre Repressionen und Massaker mit ethnologischen Studien zu rechtfertigen.

Waehrend sich Tierneys Manipulationen schriftlicher Quellen nachweisen lassen, koennen seine Interviews mit den Yanomami, Behoerdenmitarbeitern und Missionaren kaum ueberprueft werden. Zwischen Ethnologen, Missionaren und unterschiedlichen Fraktionen der Yanomami gibt es seit langem heftige Auseinandersetzungen. Der im Yanomami-Gebiet sehr einflussreiche katholische Salesianer-Orden hat Chagnon seit Jahren den Zutritt verweigert, waehrend dieser wiederum die Missionare beschuldigt, sie haetten Seuchen eingeschleppt und die Yanomami mit Schusswaffen versorgt, was viele Todesopfer gefordert habe. Die Missionare streuten daraufhin das Geruecht aus, Chagnon habe enge Beziehungen zu den Minenbesitzern. Der Ethnologe William Irons vermutet, dass sich Tierney hier fuer seine Angriffe munitionieren liess. Andere Stichwortgeber seien Ethnologen, die das Bild vom "edlen Wilden" pflegten und in Chagnon den Prototyp eines Sozialdarwinisten saehen.

Die postmoderne Lehre legitimiert die Methoden: Da Wahrheit ohnehin nur eine soziale Konstruktion ist, darf man mit ihr leichtfertig umgehen, wenn es nur der guten Sache dient. In diesem Sinne verteidigt auch Tierney sein Buch gegen die "fachlichen Haarspaltereien" seiner Kritiker. Der Anthropologe Kim Hill meint, dass die "falschen Anschuldigungen und die pure Boesartigkeit des Buches" all das Gute untergraben, das ein Bericht ueber die Situation der Yanomami haette stiften koennen. Seine Kollegin Magdalena Huertado fuerchtet, die "wissenschaftsfeindliche Propaganda" des Buches koennte indigene Voelker kuenftig gegen jede medizinische Forschung und Versorgung aufbringen und dadurch schweren Schaden anrichten.