Internet Source: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Natur und Wissenschaft, Pg. N5, Geisteswissenschaften, February 28, 2001
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RICHARD KAEMMERLINGS
Die Wissenschaftsskandalen eigene Dramaturgie hat sich im Zeitalter des Internets veraendert. Als die Ethnologen Leslie Sponsel und Terence Turner im vergangenen September per E-Mail an die Vorsitzenden der American Anthropological Association auf einen kommenden Skandal aufmerksam machten, hatten sie lediglich die Druckfahnen von Patrick Tierneys Buch "Darkness in El Dorado" in Haenden. Um die Geschichte ihres zugespitzten Abstracts ranken sich seither Geruechte. Die "Weiterleiten"-Taste des E-Mail-Programms sorgte jedenfalls fuer rasche Verbreitung des angeblich vertraulichen Memos. Das Ansteckende der medialen Ausbreitung hatte eine merkwuerdige Naehe zu dem gegen den Genetiker James Neel erhobenen Vorwurf, er habe eine Masernepidemie unter den Yanomami-Indianern herbeigefuehrt. Die Beschuldigungen gegen Neel und den Ethnologen Napoleon Chagnon, der mit seinen Beschreibungen des Amazonasstamms als dem "wilden Volk" beruehmt wurde, breiteten sich wie eine Epidemie aus.
Die Anfaelligkeit sowohl der Fachwissenschaft als auch der Oeffentlichkeit fuer die mittlerweile offenbar entkraefteten Vorwuerfe gegenueber Neel erklaert sich aus einer Situation, in der das lange vorherrschende kulturalistische Paradigma wachsendem Druck seitens biologischer Erklaerungen, speziell der Evolutionspsychologie, ausgesetzt ist. Eine Darstellung der Forschungspraxis als menschenverachtendes Experiment liegt genau in der herkoemmlichen Stossrichtung gegen einen "rechten" Biologismus. Nachdem Tierneys Buch nun vorliegt, klingen die Vorwuerfe differenzierter. "Schuldig nicht im Sinne der Anklage", ueberschreibt Marshall Sahlins, seit "Culture and practical reason" (1976) einer der grossen Antipoden kultureller Evolutionstheorien, seine Stellungnahme in der "Washington Post". Aus Chagnons Arbeiten spreche selbst ein zutiefst kriegerischer Geist, sie erscheinen Sahlins wie eine wissenschaftliche Parallelaktion zum Vietnamkrieg: "Chagnon betrieb Feldforschung nach der Art eines Feldzugs." Die zum Anthropologicum erhobene Kriegsluesternheit erklaere sich nicht nur als Reaktion auf die hinterlistigen Verletzungen des Namenstabus fuer die benoetigten Verwandtschaftslisten, sondern auch durch den geizigen Umgang Chagnons mit Vorraeten in einer Kultur, in der das Teilen von Nahrung Kriterium der Menschlichkeit ist. Die durch Chagnons Waffen und Werkzeuge erzeugten Rivalitaeten heizten das Klima zusaetzlich an: Mitte der siebziger Jahre war Chagnon der meistgehasste Mann der Region, ein monstroeses Symbol der Boesartigkeit.
Wie jemand in der wissenschaftlichen Arena mit Erfolg Thesen von der natuerlichen Gewalttaetigkeit des Menschen oder der groesseren Fortpflanzungsfaehigkeit von Moerdern verbreiten kann, der alle ethischen und methodischen Gebote der Feldforschung missachtet, das ist auch nach Clifford Geertz der wahre Skandal: Der reduktionistischen Sehweise der "Anthros", wie der wilde, "unmenschliche Stamm" der Ethnologen bei den Yanomami genannt wird, erschien ihr Objekt "nicht als Volk, sondern als Population", als "Kontrollgruppe" zur Verifizierung der Hypothese, dass Gewalt und Sexualitaet die Motoren der Gattungsgeschichte sind, schreibt Clifford Geertz im "New York Review of Books".
Dass nun die ganze Ethnologenzunft in die Naehe zynischen Herrenmenschentums rueckt, muss aberwitzig erscheinen bei einer Profession, die sich seit Malinowski den strengen Exerzitien skrupuloeser Selbstreflexion unterzogen hat. Dem Problem, eine Gruppe zu erforschen, in die man zu diesem Zweck partiell integriert sein muss, entspricht auf der wissenschaftstheoretischen Ebene die Schwierigkeit, eine fremde Kultur mit den Begriffen der eigenen zu beschreiben. Seit der von Geertz angestossenen "Writing Culture"-Debatte gehoeren solche Einsichten zum Grundstudium. Durch einen hintersinnigen Zufall findet sich in Geertz' juengstem Buch "Available Light" ein Aufsatz von 1968 ueber "Denken als moralischen Akt", in dem er den "ethischen Dimensionen anthropolgischer Feldarbeit" nachgeht. Waehrend Chagnon gerade seinen Privatkrieg am Amazonas fuehrte, schrieb Geertz damals: "Weil Denken ein Verhalten ist, spiegeln die Ergebnisse des Denkens unweigerlich die Eigenschaften der menschlichen Situation wider, in der sie gewonnen wurden."
Die methodische Kritik an Chagnon laesst sich mit dem seit Edward Said als Allzweckwaffe dienenden Vorwurf des "Othering" fassen, nur dass Chagnon die von ihm beobachteten Indianer nicht als Primitive beschrieb, um seine Ueberlegenheit zu untermauern. Er idealisierte vielmehr umgekehrt deren "archaische" Fremdheit, um die moderne Zivilisation als Deckmaentelchen animalischer Rangordnungskaempfe zu entlarven. Sein sensibles Einleben in indigene Kulturen, sein "going native", war daraus die Konsequenz. Seine Beobachtung war keine teilnehmende, sondern eine eingreifende. Bei wem das Recht des Staerkeren noch unverbildet herrscht, mit dem kann der Ethnologe nur auf Kriegsfuss stehen.
Dass die Debatte um die Yanomami nun zum Gegenstand der Grabenkaempfe zwischen Naturalisten und Kulturalisten wird, mag man auch deswegen bedauern, weil deren Schicksal nun abermals instrumentalisiert wird fuers Imponiergehabe akademischer Alphatierchen. Geertz' zutiefts resignativer Blick faellt auf die oekonomisch wie gesundheitlich beklagenswerte Lage der Indianer, zu der Ethnologen noch einen Teil beigetragen haben: Als Volk sind die Yanomami vom Aussterben bedroht. Die Konjunktur ihrer Geschichte betrifft nur eine virtuelle Gemeinschaft, deren Aehnlichkeit mit dem Stamm gleichen Namens nur mehr rein zufaellig ist. Der Essay von Clifford Geertz endet mit "Yanomami.com". Der Anthropologe erscheint als Midas-Gestalt: Was er beruehrt, verwandelt sich in wertvolle Ueberlieferung und ist damit dem Tode geweiht.
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