Darkness in El Dorado Controversy - Archived Document


Internet Source: Neue Zuercher Zeitung, ZEITFRAGEN; Seite 97, March 17, 2001
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Masern, Medizin und Moral; Yanomami-Indianer als Versuchskaninchen amerikanischer Forscher?

Auswaertige Autoren

Im unzugaenglichen Sueden Venezuelas, knapp 150km von der brasilianischen Grenze entfernt, liegt als letzter Vorposten vor dem unerschlossenen Niemandsland die katholische Missionsstation Ocamo. In der Naehe, wenige Meter von der Flugpiste entfernt, findet sich ein Grabhuegel. Aus dem Journal der Mission geht hervor, dass hier am 15. Februar 1968 ein Yanomami-Indianer beerdigt wurde. Roberto Baltasar war gerade sechs Monate alt, als er an Masern verstarb und noch am gleichen Tag in aller Eile verscharrt wurde. Es handelt sich um den ersten nachgewiesenen Fall von Masern auf dem Yanomami-Territorium im Sueden Venezuelas, und die Erkrankung trat auf, fuenf Tage nachdem der Bub von dem umstrittenen amerikanischen Anthropologen Napoleon Chagnon mit einer nebenwirkungsbehafteten Vakzine gegen Masern geimpft worden war.

Eine medizinische Tragoedie

Innerhalb weniger Wochen verstarben mehrere hundert - nach anderen Quellen rund 2000 - Indianer an einer Lungenentzuendung, offensichtlich verursacht durch das Masernvirus. Dutzende von Shabonos, traditionellen Runddoerfern, im Quellgebiet des Orinoco-Flusses wurden in Panik von ihren Bewohnern verlassen, Tote wurden aus Angst nicht beerdigt (die Indianer dachten, ein Fluch sei ueber ihren Stamm gekommen, und deshalb haengte man die Toten in Koerben hoch in Aeste grosser Baeume), und eine jahrtausendealte Kultur wurde bis in ihre Grundfesten erschuettert. Die medizinischen Details der schrecklichen Epidemie sind in der angesehenen Fachzeitschrift "The American Journal of Epidemiology" (1970, Band91, S. 425f.) nachzulesen. Die Autoren, amerikanische Aerzte und Anthropologen, unterstreichen in dem Text ihre heroischen Bemuehungen, dem Ausbruch durch gezielte Impfungen und supportive Massnahmen Paroli zu bieten.

Die Publikation galt lange als Musterbeispiel fuer eine mit Akribie erstellte Dokumentation einer Masernepidemie bei suedamerikanischen Ureinwohnern, die Zuverlaessigkeit der Daten wurde nie in Zweifel gezogen. Doch offensichtlich haben die Autoren bei ihrer beeindruckenden Darstellung ein Detail "vergessen": Es spricht naemlich einiges dafuer, dass sie den infektionsmedizinischen GAU unter den Yanomami selbst ausgeloest haben.

Verheerendes Wirken des Genetikers Neel

Wie der Wissenschaftsjournalist Patrick Tierney in seinem eben erschienenen Buch "Darkness in El Dorado - How Scientists and Journalists devastated the Amazon" kenntnisreich ausfuehrt, haben Forscher um den Genetiker James Neel die Yanomami-Indianer jahrelang als Versuchskaninchen missbraucht. Danach war die iatrogen verursachte Masernepidemie nur der Endpunkt eines inakzeptablen Forschungsprojektes.

Der damals an der Universitaet von Michigan taetige Mediziner Neel war ueber Jahrzehnte von der Idee besessen, dass es beim Menschen so etwas wie ein "Fuehrerschafts-Gen" geben muesse, eine aus der Urgeschichte der Menschheit stammende Erbanlage, die fuer die Dominanz starker, viriler Personen ueber "verweichlichte" Bevoelkerungsgruppen verantwortlich waere. Dieses Gen, so Neel, sei Teil eines "Indexes natuerlicher Faehigkeiten", einer Gruppe von Genen, die in der westlichen Welt weitgehend verloren gegangen, aber bei Haeuptlingen traditioneller Stammesgemeinschaften noch vorhanden seien.

Dass diese wenig haltbaren, an die Nazi-Theorie vom Herrenmenschen erinnernden Hypothesen ihn auf das gefaehrliche Feld der Eugenik leiteten, machten dem Professor aus Michigan nichts aus. Im Gegenteil. Zu Beginn der sechziger Jahre setzte sich Neel fuer eine systematische Untersuchung von ungeborenen Kindern auf koerperliche Defekte ein und rechnete aus, wie viel Geld - exakt 75000 Dollar pro Fall - die USA durch Abtreibung solcher Foeten sparen wuerden. Und die als besonders gewalttaetig verschrieenen Yanomami-Maenner schienen Neel als geeignete Gruppe, um seine kruden Theorien mit Zahlenmaterial zu untermauern.

Sponsor Atomenergiebehoerde

Da selbst in der McCarthy-Aera in den USA fuer diese Art von Forschungen keine oeffentlichen Mittel zu bekommen waren, verpackte Neel seine Forschungsziele in ein Projekt, das den Zeitgeist eher traf und fuer das ein grosszuegiger Sponsor zur Hand war, die Atomenergiebehoerde (AEC) in Wien. Vordergruendig ging es darum, durch radioaktive Strahlen verursachte Zellschaeden (Mutationen) bei den Ueberlebenden der Atombombenabwuerfe von Nagasaki und Hiroshima quantitativ zu bestimmen und mit einer Bevoelkerung ohne jede Strahlenexposition zu vergleichen. Genau dazu waren die Yanomami auserkoren.

Das wahre Ziel, so legt Patrick Tierney dar, war ein anderes: Es galt, Grenzwerte fuer die Strahlenbelastung herauszufinden, unterhalb deren in einer Bevoelkerung keine nennenswerten Mutationen auftreten. Solche Werte wurden von den amerikanischen Militaers benoetigt, um ihre Atombombenversuche abzusichern. Diese - nicht nur wissenschaftlich fragwuerdigen - Studien unterstuetzte die AEC zwischen 1965 und 1972 mit rund 2,3 Millionen Dollar. Empfaenger: Professor James Neel.

Seit der Entdeckung des amerikanischen Kontinents war bekannt, dass die Ureinwohner eine ungewoehnlich hohe Empfaenglichkeit fuer Erreger der Alten Welt hatten. Ob Mumps, Pocken, Diphtherie oder Influenza - wann immer Indianer mit diesen Erregern in Kontakt kamen, waren explosionsartige Krankheitsausbrueche mit einer exzessiven Todesfallrate die Folge. James Neel wusste das, hielt allerdings nichts von der Theorie der selektiven Adaptation, mit der die moderne Medizin den Unterschied in der Empfaenglichkeit fuer Erreger zwischen Menschen in der Alten und der Neuen Welt erklaerte. Nach seiner Meinung wuerde eine Bevoelkerung umso widerstandsfaehiger auf Kontakt mit einem unbekannten Bakterium oder Virus reagieren, je staerker die "natuerlichen Faehigkeitsgene" ausgepraegt waeren. Die virilen, vor Kampfeslust strotzenden Yanomami schienen ihm dafuer das richtige Modell.

Bestehende Immunschwaeche verstaerkt

Um Neels Hypothese am Beispiel der Masern zu testen, brachten die amerikanischen Forscher im Januar 1968 einen Impfstoff in das Yanomami-Gebiet, der schon damals allgemein als obsolet galt, die sogenannte Edmonston-B-Vakzine. Sie enthielt lebende Masernviren in einer abgeschwaechten Form. Der Virusstamm war noch immer so aggressiv, dass die Impfung nahezu konstant ein Krankheitsbild hervorrief, das einer natuerlichen Maserninfektion aehnlich war. Dieser Impfstoff (es gab bereits zwei weitere, wesentlich besser vertraegliche Vakzine) wurde deshalb nur noch angewandt, wenn gleichzeitig virusneutralisierende Antikoerper in Form eines Gammaglobulins injiziert wurden. Bei Personen mit Immunschwaeche und bei der nordamerikanischen Urbevoelkerung war diese nebenwirkungsreiche Vakzine damals bereits kontraindiziert.

Wie Tierney an Hand minuzioeser Detektivarbeit nachweist, wurde die Edmonston-B-Vakzine in mindestens einem Yanomami-Dorf ohne das notwendige Gammaglobulin gespritzt. Tierney vermutet, dass es dabei in einem oder in mehreren Faellen zu einer Vakzin-induzierten Maserninfektion kam, sich das aggressive Virus dann rasch von Person zu Person ausbreitete und ueber die zahlreichen Dolmetscher und Kuriere, die fuer die Wissenschafter die Kontakte in die verstreut liegende Shabanos aufrechterhielten, innerhalb weniger Tage in nahezu alle Siedlungen des Yanomami-Territoriums verschleppt wurde.

In Analogie zu einer durch die Poliomyelitis-Vakzine ausgeloesten Kinderlaehmung - in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach beobachtet - koennte theoretisch auch das Masernvirus des Edmonston-Impfstoffs in Einzelfaellen zu einer Masernerkrankung gefuehrt haben. (Bei einigen amerikanischen Kindern mit einer Immunschwaeche wurden solche Impfmasern nachgewiesen.) Ausserdem sind die von Neel und seinen Mitarbeitern aufgefuehrten moeglichen anderen Ursachen der Masernepidemie von Ocamo wenig stichhaltig. Auch strotzten die Yanomami - im Gegensatz zu den Vorstellungen von James Neel - nicht vor Gesundheit. Unterernaehrung, Malaria und Erkrankungen der Atemwege waren an der Tagesordnung, allesamt Krankheiten, die die Abwehrkraefte schwaechen. Da andererseits das Masernvirus selbst zu einer Immunsuppression fuehrt, setzten Neel und seine Mitarbeiter einen verhaengnisvollen Circulus vitiosus in Gang: Die bestehende Immunschwaeche wurde durch die Impfung mit dem aggressiven Erreger weiter verstaerkt, die diversen bereits vorhandenen Krankheitserreger konnten sich ploetzlich ungebremst vermehren. Ob im Einzelfall eine Ueberreaktion auf das Edmonston-Virus, eine infolge der Immunschwaeche aufgetretene Lungenentzuendung oder eine fulminant verlaufene Malaria tropica den Tod verursacht hat, ist eine muessige Frage. Klar ist, dass die Yanomami als typische Ureinwohner nicht mit der Edmonston-Vakzine haetten geimpft werden duerfen und schon gar nicht ohne gleichzeitige Gabe von Gammaglobulin.

Verstoss gegen medizinethische Regeln

Die Forscher aus Michigan haben 1968 nicht nur gegen infektionsmedizinisches Wissen verstossen, sie haben mit ihren diversen Studien auch schon damals in der Medizin geltende ethische Prinzipien verletzt. Der Einsatz der Edmonston-Vakzine beispielsweise war weder einer amerikanischen Ethikkommission vorgelegt noch von den zustaendigen venezolanischen Behoerden abgesegnet worden. Auch die seit 1957 vom Supreme Court der USA festgelegte Aufklaerung von Patienten ueber die Ziele und Absichten einer medizinischen Studie und die notwendige schriftliche Einwilligung der Probanden vor Aufnahme in eine Studie wurden ignoriert. (Wie haette man auch einem erst seit kurzem entdeckten, kulturell noch in der Steinzeit lebenden Indianerstamm die Theorie der selektiven immunologischen Anpassung und die Bedeutung bestimmter Genexpressionen fuer die Eugenik erklaeren sollen?) Schliesslich wurden - als die Masern sich ueber das Yanomami-Territorium ausbreiteten - die notwendigen Bekaempfungsmassnahmen, so weist Tierney nach, nur halbherzig und ziemlich unprofessionell durchgefuehrt.

Den unheilvollen Auswirkungen kolonialer und postkolonialer Hegemoniebestrebungen auf die Lebensqualitaet der Ureinwohner Suedamerikas - durch militaerische Expeditionen, in Massen einstroemende Gold- und Edelsteinsucher oder auf Seelenfang gedrillte, gut meinende Missionare aller Glaubensrichtungen - hat die Masernepidemie von Ocamo ein neues Schreckenskapitel hinzugefuegt: Auch im Namen der medizinischen Wissenschaft, so ist die Schlussfolgerung aus Patrick Tierneys Buch, wurde in der Neuen Welt ahnungslosen "Wilden" Leid zugefuegt.