Internet Source: Neue Zuercher Zeitung, ZEITFRAGEN; Seite 97, March 17, 2001
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Heusser R.
Das Versprechen, in sogenannt unberuehrten Gesellschaften urtuemliche Formen des Verhaltens zu finden und so mehr darueber zu erfahren, wie die Menschen urspruenglich seien, lockt Forschungsreisende wie Touristen. Waehrend manche Ethnologen mit Clifford Geertz ("After the Fact") die melancholische Haltung des Zuspaetgekommenen zelebrieren - wo man hinkommt, nichts ist mehr urspruenglich - und versucht sein moegen, auf Grund weniger Daten zu rekonstruieren, was war, richten andere ihr Augenmerk auf das, was ist, und beziehen Folgen der Akkulturation in ihre Untersuchungen ein.
In letzter Konsequenz wird die eigene Gesellschaft ins ethnologische Auge gefasst. Dass sich die Methoden der europaeischen und der aussereuropaeischen Ethnologie angleichen, ist nur folgerichtig, die unruehmliche Trennung in Volks- und Voelkerkunde, im deutschsprachigen Raum lange gepflegt, scheint aufgehoben. Mit dem Abschied vom Studium im Reservat entfaellt die Sensation des Exotischen. Fuer Touristen wird Folklore allemal inszeniert, wie das im 18. Jahrhundert auch in Europa ueblich war, etwa mit der Wiederbelebung serbelnder Trachtenvereine.
Ist ein streng geregelter Verhaltenskodex die eine Hypothese, zu deren Verifikation "unberuehrte" Voelker einladen, ist die genetische Homogenitaet die andere. Dass die mit 270 000 Einwohnern uebersichtliche Bevoelkerung Islands weitgehend abgeschnitten ist von der uebrigen Welt, praedestiniert die Insel fuer eine - umstrittene - Studie der Humangenetik: die Untersuchung der gesamten Bevoelkerung mit Blick auf die genetischen Grundlagen von einem Dutzend chronischer Krankheiten.
Auch die Yanomami im Grenzgebiet von Venezuela und Brasilien zeichnen die beiden Vorzuege Abgeschiedenheit und Uebersichtlichkeit aus, die Genetiker schaetzen. Dass ihre Immunabwehr mit Impfstoffen erprobt wurde unter Inkaufnahme verheerender Folgen, ist das eine. Dass im soziobiologischen Wahn ein Anthropologe sich dafuer begeistern liess, der Grundlage fuer aggressives Verhalten im Erbgut auf die Spur zu kommen, das andere. Hat Chagnon - zuerst 1968 in "The Fierce People" - ein Verhalten rapportiert, das so nicht stattfand, weil er die Ergebnisse seiner Forschung im Voraus zu kennen glaubte? Oder laesst sich zwar in dieser hierarchiearmen Gesellschaft tatsaechlich erhoehte Aggression beobachten, ist sie aber sozial (Bestreben nach Schichtung) und nicht genetisch (Reproduktionsvorteil) motiviert?
Die Diskussion wurde unlaengst eroeffnet mit dem kritischen Report "Darkness in El Dorado" von Patrick Tierney, der an vielen Orten des fraglichen Gebietes nachrecherchiert hat und dabei auf Ungereimtheiten gestossen ist. Hat er Recht, oder ist auch er einfach zu spaet gekommen?
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