Internet Source: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Natur und Wissenschaft, Pg. N5, Geisteswissenschaften, July 4, 2001
Source URL: none
WOLFGANG KRISCHKE
Warum ethnographische Filme drehen? Richard Leacock hat eine schlichte Antwort: "Ich wollte meinen blassen Landsleuten die Welt zeigen." Leacock, der als Kameramann fuer Robert Flahertys "Louisiana Story" das Leben der Oelsucher in den Suempfen von Louisiana schilderte und spaeter als Protagonist des Direct Cinema das Objektiv auf die gesellschaftlichen Brennpunkte Amerikas richtete, gehoerte zu einer illustren Schar von ethnographischen Filmemachern, die unlaengst in Goettingen auf Einladung des Instituts fuer den Wissenschaftlichen Film zusammenkamen, um der Geschichte ihres Schaffens nachzuspueren. Als Praktiker und Theoretiker in einer Person, als Zeitzeugen, die ueber ihre Lehrmeister sprechen und dabei selbst schon zum Gegenstand filmhistorischer Betrachtungen geworden sind, sorgten Veteranen wie Jean Rouch, Luc de Heusch, John Marshall, Colin Young oder Ernst Fuchs fuer eine Verschraenkung der Perspektiven, wobei die Subjekte und Objekte der historischen Reflexion permanent die Plaetze tauschten.
Die Geschichte des ethnographischen Films entfaltete sich so als ein Mosaik aus Anekdoten und Analysen - angemessen fuer ein Genre, dessen einzige Konstante das Oszillieren zwischen wissenschaftlicher Objektivitaet und kuenstlerischer Gestaltung, zwischen kuehler Distanz und engagierter Parteinahme ist. Dass die Bestandsaufnahme gerade jetzt stattfindet, haengt nicht nur mit dem biblischen Alter ihrer Pioniere zusammen, sondern auch mit dem Wendepunkt, an den der ethnographische Film im Zeitalter der Videokamera gelangt ist. Leicht zu handhaben, erlaubt sie den Ethnologen, schnell und billig zu arbeiten. Damit geht freilich die Gefahr der Beliebigkeit und des Dilettantismus einher. In dieser Situation sollte die Veranstaltung auch die Erfahrung und das Koennen vergangener Epochen sichern, um sie an die nachwachsenden Generationen weitergeben zu koennen.
Realitaet unverzerrt.
Die Technik hat die Formen und Inhalte des ethnographischen Films schon immer stark gepraegt: In Urwald, Wueste oder Tundra entscheiden nicht zuletzt Gewicht und Handlichkeit der Filmausruestung darueber, was auf welche Weise gezeigt werden kann. Als Ende der fuenfziger Jahre leichte Handkameras fuer 16-Millimeter-Film aufkamen, die den Ton synchron aufzeichnen konnten, bedeutete das eine Revolution, denn durch diese Flexibilitaet eroeffneten sich ganz neue Moeglichkeiten: Man konnte auf das Stativ verzichten, den Personen mit der Kamera folgen und die Perspektiven muehelos wechseln. Der synchronisierte Ton gab den gefilmten Menschen eine eigene Stimme und ersetzte den gelehrten Kommentar.
Offenheit gegenueber dem Unerwarteten, die Einbeziehung der Gefilmten, minutenlange Einstellungen, der Verzicht auf Drehplaene und gestellte Szenen wurden zu Hauptkennzeichen einer neuen Richtung, die sich als "Cinema verite" in Frankreich, als "Free Cinema" in England oder als "Direct Cinema" in den Vereinigten Staaten durchsetzte. Die politisch engagierten Dokumentarfilme der spaeten sechziger Jahren zogen die radikalen Konsequenzen daraus. Die Spannung, die zwischen dem Anspruch, Realitaet unverzerrt zu zeigen, und der Subjektivitaet von Kamerafuehrung und Filmschnitt besteht, war auch in Goettingen ein Thema, das die ethnolgischen Filmemacher bei ihrem Versuch umtrieb, den eigenen Standort zu bestimmen.
Die Veteranen von Direct Cinema und Cinema verite definierten ihre Arbeit als die Erzaehlung von Erfahrungen und Emotionen, als einen Versuch, das Fremde zu verstehen. Ueber den Anspruch der Wissenschaftlichkeit hingegen koenne er nur kichern, erklaerte Richard Leacock, und viele seiner Kollegen kicherten mit. Sie bekannten sich mit Nachdruck zu Robert Flaherty als geistigem Stammvater und insbesondere zu "Nanook of the North".
Praeparate des Verhaltens.
Dieser Film von 1922 ueber die Inuit in Nordkanada ist als Klassiker und Kassenerfolg in die Filmgeschichte eingegangen und sorgt bis heute fuer Kontroversen. Denn Flaherty zeigte nicht etwa die Inuit, wie er selbst sie erlebte. Die Spuren der technischen Zivilisation blendete er aus und animierte seine Gastgeber statt dessen, alte Traditionen fuer die Kamera nachzustellen - alles eingebettet in eine personalisierte Erzaehlhandlung. Einem heutigen Filmer wuerden solche narrativen Historisierungen die scharfe Ablehnung der Ethnologen -Gemeinde einbringen: So klagte der Journalist Patrick Tierney kuerzlich den Ethnologen Napoleon Chagnon und seinen verstorbenen Kameramann Timothy Asch an, bei ihren Filmen ueber die Yanomami Szenen gestellt zu haben. Die Vorwuerfe haben sich als falsch herausgestellt, aber niemandem waere es eingefallen, Chagnon und Asch im gegenteiligen Fall mit dem Hinweis auf die Freiheit der Kunst zu verteidigen.
Doch die historische Distanz veraendert die Masstaebe. Die aesthetische Qualitaet seiner Bilder und seine Identifikation mit den Menschen geben Flahertys Filmen eine "poetische Wahrheit", die noch heute fasziniert. Angesichts dieses Konzepts, das so sehr an die deutsche Romantik erinnert, ist es eine ironische Pointe, dass gerade der deutsche ethnographische Film jahrzehntelang einem entgegengesetzten Prinzip folgte und sich eine naturwissenschaftlich verstandene Objektivitaet auf die Fahnen schrieb. Das Zentrum dieser Tradition war lange Zeit das Institut fuer den Wissenschaftlichen Film. Dessen Grundstock bildeten zunaechst einige Dutzend Filme, die grossenteils waehrend der Zeit des Nationalsozialimus entstanden waren und neben deutschem Brauchtum auch einige Expeditionen nach Afrika und Suedamerika dokumentierten. Um das in Berlin lagernde Material vor den Bombenangriffen in Sicherheit zu bringen, wurde es in ein Dorf bei Goettingen gebracht, wodurch die nahe gelegene Universitaetsstadt nach Kriegsende zum Sitz des Instituts wurde.
Der Goettinger Stil war stark beeinflusst von Konrad Lorenz und seinen Filmen zur Verhaltensforschung. Strenge Regeln sollten die Wissenschaftlichkeit gewaehrleisten. Dazu gehoerte, dass immer nur eng begrenzte Handlungsablaeufe gefilmt wurden. Diese kurzen, monothematischen Stummfilme sollten nach und nach zu einer filmischen Matrix zusammengefuegt werden, um dann Rituale, handwerkliche Verfahrensweisen oder landwirtschaftliche Techniken in ihre einzelnen Komponenten zerlegen und miteinander vergleichen zu koennen. Streng definierte Ablaufplaene, das Verbot jeder Einmischung und die genaue Kenntnis der Sprache und Kultur sollten den wissenschaftlichen Charakter garantieren. Diese kontrollierten Arbeiten, die sich auf die materiellen, sichtbaren Aspekte der Kulturen beschraenkten, bildeten den Gegenpol zu den kuenstlerisch und sozialkritisch inspirierten Trends der frankophonen und angloamerikanischen Laender in den sechziger Jahren. Zwar trug vor allem Ernst Fuchs, der Spiritus rector des Instituts, dazu bei, dass die strengen Regeln sich im Laufe der Jahre lockerten. Trotzdem blieb der deutsche Film lange Zeit international isoliert. Fuer den postmodernen Zeitgeist der Ethnologie sind die positivistische Attituede hinter diesen Filmen und der Verzicht auf humanistische Rechtfertigungen nach wie vor ein rotes Tuch. Doch eine Neubewertung setzt ein: Gerade die Mitglieder der indigenen Kulturen, die in den fuenfziger und sechziger Jahren gefilmt wurden, nutzen mittlerweile die nuechtern-akribischen Aufzeichnungen, um ihre eigenen Traditionen wiederzuentdecken.
Bestimmend fuer die juengere Geschichte des ethnographischen Films ist das wachsende Selbstbewusstsein der "beforschten" Ureinwohner, die mittlerweile als Partner die Themen und Motive mit den Filmemachern aushandeln und bestimmen, welches Publikum die Filme sehen darf. Dieses Recht wird inzwischen auch fuer alte Streifen beansprucht. Insbesondere Filme, die sakrale Handlungen zeigen, sind deshalb haeufig fuer die Oeffentlichkeit gesperrt, weil sonst Tabus verletzt wuerden. Mittlerweile gibt die Videotechnik den indigenen Gesellschaften die Chance, sich selbst darzustellen und ihrerseits die Kamera auf die Forscher zu richten.
Spionage im Archiv.
Fuer Zuendstoff sorgte ein Beitrag des amerikanischen Ethnologen und Filmers Edmund Carpenter. Der Achtundsiebzigjaehrige weilte zwar bei Feldforschungen in Sibirien, war aber auf der Leinwand in einem gefilmten Interview anwesend, das Carpenters Kollegen Harald Prins und John Bishop mit ihm gemacht hatten und in Goettingen vorfuehrten. Carpenter berichtete, dass das ethnographische Filmarchiv der Washingtoner Smithsonian Institution ueber viele Jahre in Geheimdienstaktivitaeten verwickelt war. Anfang der siebziger Jahre unter reger Beteiligung prominenter Ethnologen gegruendet, sollte sich diese Einrichtung der Archivierung von Filmen, der Unterstuetzung neuer Projekte sowie der Konservierung historischen Filmmaterials widmen. Doch von Anfang an wurde, Carpenter und Prins zufolge, das Archiv als Tarnorganisation der CIA missbraucht, die mit seiner Hilfe Kontakte zu korrupten Politikern der Dritten Welt pflegte, Gelder an geheimdienstliche Operationen umleitete und Filmprojekte, oft ohne Wissen der beteiligten Filmemacher, initiierte, um Informationen ueber bestimmte Laender zu bekommen.
Die "Rock Foundation", die Carpenter zusammen mit seiner vermoegenden Ehefrau gegruendet hatte, unterstuetzte das Archiv finanziell. Allerdings stellte sich heraus, dass Gelder, die die Stiftung fuer die Konservierung alten Filmmaterials zur Verfuegung gestellt hatte, zweckentfremdet worden waren. Hauptfiguren in diesem Spiel waren, so Carpenter, der Sekretaer der Smithsonian Institution, Dillon Ripley, der waehrend des Zweiten Weltkrieges fuer die Vorlaeuferorganisation der CIA gearbeitet hatte, sowie der Ethnologe Richard Sorensen. Dessen Ernennung zum Archivdirektor hatte Margaret Mead betrieben, gegen den Willen der meisten Kollegen. Sorensen war nicht nur Meads Student gewesen, beide waren sich auch darin einig, dass Regierung und Militaer von ethnologischen Erkenntnissen profitieren sollten. Als Vorwuerfe wegen der zweckentfremdeten Gelder laut wurden, verlor Sorensen schliesslich seinen Posten. Aber viele Hintergruende der Affaere liegen offenbar noch im dunkeln.
Content is copyright © by the authors, websites, or companies that originally published and/or wrote the text of this document. Page design and layout is copyright © Douglas W. Hume.