Internet Source: Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Wissenschaft, Pg. 60, January 6, 2002
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Von Joerg Albrecht
Wie viele Anthropologen gibt es auf der Welt? Niemand weiss es ganz genau, niemand hat sie je gezaehlt, befragt, vermessen, ihre Stammesbraeuche untersucht oder Dokumentarfilme gedreht ueber ihre rituellen Zusammenkuenfte.
Hingegen wissen wir ziemlich genau, wie viele Yanomami-Indianer es gibt: 15 193 waren es bei der juengsten Volkszaehlung auf venezolanischem Gebiet, rund 11 000 auf brasilianischem Territorium. Wie sie leben, wie sie lieben, was sie essen, was sie denken, was sie fuehlen, wie die einzelnen Staemme gegeneinander in den Krieg ziehen oder Koalitionen schmieden - all das ist minutioes festgehalten und hat schon manche akademische Karriere befluegelt. Und nun den groessten Streit ausgeloest, den die Anthropologie erlebt hat, seit vor zwanzig Jahren herauskam, dass die Feldforscherin Margaret Mead das angeblich freizuegige Sexualverhalten von Jugendlichen auf Samoa allzu phantasievoll interpretiert hatte. Um Phantasie geht es auch diesmal. Und um Grundsaetzliches. Wie weit darf sich ein Feldforscher einmischen in das Leben derer, die er studiert? Losgetreten wurde die Debatte durch den amerikanischen Journalisten Patrick Tierney: Vor gut einem Jahr erschien (nach angeblich elfjaehriger Recherche) sein Buch "Darkness in Eldorado". Die Vorwuerfe, die Tierney darin erhob, haetten ausgereicht, die Menschenrechtskommission auf den Plan zu rufen. Im Zentrum des Skandals: Napoleon Chagnon, Yanomami-Experte der ersten Stunde, und sein Kollege James Neel, einer der fuehrenden Humangenetiker seiner Zeit. Die beiden haetten, behauptete Tierney:.
- Indianer wissentlich oder gar vorsaetzlich mit einem Masernimpfstoff traktiert, der schwere Nebenwirkungen zeitigen musste;.
- ihnen Blut abgenommen, ohne ihre Zustimmung einzuholen;.
- Namen und Familienzugehoerigkeit von Stammesmitgliedern ausgeforscht, obwohl dies gegen ein grundlegendes Tabu der Yanomami verstoesst;.
- Waffen verteilt und feindliche Staemme zum Krieg aufgehetzt;.
- sich massiv in Fragen der Indianerpolitik eingemischt.
All das, um ihre eugenische Theorie von der naturgegebenen Ueberlegenheit des Staerkeren zu untermauern. Was sie suchten, war eine Art "Fuehrerschafts-Gen", das es den damit ausgestatteten Maennern erlauben wuerde, in einer primitiven Gesellschaft zahlreichere Nachkommen zu zeugen.
Seit gut einem Jahr prueft nun eine Untersuchungskommission der American Anthropological Association, ob die Vorwuerfe zutreffen. Ende November sollte ihr Abschlussbericht vorliegen; eine vorlaeufige Fassung wurde ins Internet gestellt und nach Protesten wieder aus dem Verkehr gezogen (weiterhin zu finden unter http://groups.yahoo.com/group/evolutionary-psychology/files/aaa.html).
Der Fall hat eine Flut von Stellungnahmen und Gegenstellungnahmen ausgeloest. Jane Hill, die Kommissionssprecherin, kuendigte vergangenen Donnerstag in Nature an, der Bericht werde bis zum kommenden Fruehjahr gruendlich ueberarbeitet.
Eines steht heute schon fest: Weder Chagnon noch Neel werden von der Anthropologengemeinde verstossen werden. Nicht einmal Jacques Lizot, ein dritter Feldforscher, der beinahe ein Vierteljahrhundert bei den Yanomami lebte und dort gegen kleine oder groessere Liebesgaben immer wieder Sex mit heranwachsenden Maennern suchte; sein Verhalten wird auch nur am Rande eroertert.
Was die Zunft der Menschenkundler inzwischen beinahe mehr verstoert, ist der ideologische Ungeist, der sein Haupt aus den eigenen Reihen erhebt. Clifford Geertz, einer der angesehensten Vertreter des Faches, hat ihn in einem Aufsatz fuer die New York Review of Books beim Namen genannt.
Das Problem, glaubt Geertz, waren nicht so sehr die plumpen Einmischungen in die Stammesstruktur, das Verteilen von Geschenken, nicht so sehr das unsensible Hantieren mit Tonbaendern, Kameras, Laptops, das tausendfache Abzapfen von Blut- und Urinproben, nicht einmal der grandiose (und grandios gescheiterte) Plan, den Lebensraum der "letzten Wilden des Amazonas" in ein 15 000 Quadratkilometer grosses anthropologisches Privatlabor mit Zugang fuer zahlende Touristen zu verwandeln - das alles, glaubt Geertz, sei vielleicht noch hinzunehmen gewesen im Interesse der Yanomami und der Wissenschaft.
"Das eigentliche Problem", schreibt Geertz, "war, dass die Anthropologen das Objekt ihrer Studien nicht als ein Volk, sondern als Population wahrgenommen haben". Und zwar, um eine - wissenschaftlich auch noch fragwuerdige - These zu stuetzen, die den Yanomami nichts, den Forschern aber alles bedeutet haette.
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